Doris Leuthard, die Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, agiert in der Debatte um die Initiative für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie wiederholt mit Lügen. Damit riskiert die ehemalige EGL (Axpo) Verwaltungsrätin (und das ehemalige Mitglied des Nuklearforums Schweiz) voraussichtlich gegen Ende ihrer Karriere als Bundesrätin ihre Glaubwürdigkeit. Wie sie das tut, wird in diesem Beitrag dargestellt.
Vier Lügen der Bundesrätin
Hinweis: Ausser wo anders bezeichnet handelt es sich bei den Zitaten um Aussagen, die in der Sendung Arena des Schweizer Fernsehens zur Atomausstieg-Initiative vom 28. Oktober 2016 gemacht wurden.
1. Es braucht (keine!) Kohlestrom-Importstrategie.
Leuthard: «Und [es braucht] eine Importstrategie, wo Sie dann wirklich Kohle aus Deutschland importieren, und KKW aus Frankreich, das ist also wirklich also, das kann ich nicht verstehen, dass dies die Lösung sein solle für die Schweiz …» (nach ca. 33:40 Minuten)
Es braucht zweifellos keine Strategie, um Strom zu importieren, ganz unabhängig von der Herkunft des Stroms. Wir können ganz einfach Strom aus dem Europäischen Netzverbund einführen. Das tut die Schweiz schon seit vielen Jahrzehnten und sie tut es fast permanent. Sie kann es gerade jetzt tun, wenn mehr AKW-Kapazität vom Netz ist, als es die Initiative ab ca. Ende 2017 verlangt. Problemlos.
Gestern, 16. November, stimmte die Energiekommission des Ständerats, UREK-S, sogar einer Importabgabe auf Dreckstrom zu, was ziemlich sinnlos wäre, weil es den Europäischen Strommix nicht verändern würde. Aber es würde Kohlestromimporte wirksam aushebeln. Die Meinung des Schreibenden betreffend der AKW-Kohlestromdebatte wird zum Teil heute in der Wochenzeitung publiziert.
Viele derjenigen, die sich nun an vorderster Front gegen den Atomausstieg einsetzen, haben ihre Meinung über Kohlestrom hinsichtlich der Initiative komplett geändert. Wegen der Schlitzohrigkeit der angeblich über Kohlestromimporte besorgten Verteidiger von alten Atomkraftwerken — einschliesslich Doris Leuthard — wird es einen speziellen Beitrag auf retropower.ch geben.
2. In Belgien ist der Strom (nicht!) rationiert.
Um ihr Blackout- und Versorgungsengpass-Schreckensargument glaubwürdiger erscheinen zu lassen, behauptete Doris Leuthard in einem Interview der Aargauer Zeitung:
«Die belgische Regierung rationiert derzeit den Strom für die Haushalte zwischen 10 und 14 Uhr.»
Die Behauptung ist eine glatte, haltlose Lüge. Auch in Belgien wird der Strom nicht rationiert.
3. In Deutschland mussten sie (nicht!) Tausende einstellen, um das Netz zu stabilisieren.
In der Arena sagte Leuthard: « … sie haben [in Deutschland] Tausende von Leuten mehr einstellen müssen, dass man diese Balance im Netz hinbringt … » (nach ca. 53:15 Min.)
15’000 Stunden werden in Deutschland zur Stabilisierung des Netzes aufgewendet. Leuthard verwechselte wohl Stunden mit Leuten. Dazwischen liegt etwa ein Faktor 2000. 15’000 Stunden entsprechen etwa acht Vollzeitstellen. Der Aufwand ist, wenn auch grösser als früher, also immer noch gering. Dies obschon in Deutschland der Anteil der fluktuierenden Stromproduktion gross ist und noch viele PV-Wechselrichter installiert sind, die, anders als moderne Geräte, nicht zurückregeln, wenn genügend Strom im Netz ist.
Tausende mehr Leute anstellen. | Ausschnitt aus der Arena des Schweizer Fernsehens.
Ausserdem drehte sich die Diskussion nicht gerade um die fluktuierenden Erneuerbaren, sondern um Stromimporte, als Leuthard ihre Tausende-von-Leuten-Lüge auftischte. Die Regulierung von Importen ist alltäglich, findet bereits permanent statt, ist kein Problem und denkbar wenig aufwändig.
4. Der Kohlestromanteil in Deutschland liegt (nicht!) bei 50% (und die Tendenz der fossilen Stromproduktion ist sinkend!).
Leuthard: «Was haben sie [in Deutschland] machen müssen? Die Erneuerbaren heraufgefahren, das finde ich auch gut, ist eine gute Entwicklung, gleichzeitig haben sie die Kohle und das Gas heraufgefahren, sie haben jetzt ein paar Terawatt zwar weniger als auch schon, aber trotzdem, in Deutschland haben sie bis heute 50% der Stromproduktion ist Kohle.» (ca. 44:45)
Der Anteil von Strom aus Kohlekraftwerken im Produktionsmix Deutschlands liegt deutlich unter 50 Prozent. Definitive Zahlen für 2015 scheint es noch nicht zu geben, aber das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie publiziert bereits vorläufige Zahlen, basierend auf denjenigen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen. Demnach betrug im Vorjahr der Stromanteil aus Kohle 42,3 Prozent, was Kaspar Schuler in der Arena der Bundesrätin klipp und klar erläuterte (er nannte 43%). Das hinderte Michael Frank, den Direktor des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen nicht daran, in der Arena das 50%-Märchen anschliessend noch einmal zu erzählen.
Auch auf energisch.ch wurde die 50% Behauptung bereits gründlich widerlegt. Bereits 2014 (definitiv) lag der Anteil klar unter 50% (43,7%). Klar ist auch: Die Tendenz der Stromproduktion aus fossilen Energieträgern ist sinkend. Und Deutschlands Stromexporte haben übrigens zugenommen. Die Behauptung, Deutschland hätte wegen der Energiewende den Kohleverbrauch hochgefahren, und damit einhergehende Suggestion, unser nördliches Nachbarland hätte es tun müssen, um das Land mit Strom zu versorgen, ist stark, denn seit die Energiewende eingeläutet wurde, ist die Stromproduktion aus Kohle eher gesunken als gestiegen, z. B. von im Jahr 2000 291 TWh auf 273 TWh im vergangenen Jahr.
Das Gegenteil wurde in der Arena auch von Werner Luginbühl behauptet, dem Präsidenten der Kraftwerke Oberhasli. (Die Kraftwerke Oberhasli planen seit langer Zeit Pumpspeicherkraftwerke mit der Bezeichnung „Grimsel“. Die Absicht der Projekte war gewesen: Kohlestrom und Atomstrom veredeln. Wenn die Projekte noch eine Chance haben, dann wegen der Energiewende.) Luginbühl sagte:
«Und bevor sie [in Deutschland die AKW] überstürzt abgestellt haben, haben sie deutlich weniger Kohle gehabt, man ist jetzt daran, genau den gleichen Fehler zu machen.» Leuthard sagte darauf: «Genau!» (ca. 45:20)
Genau nicht, Frau Leuthard! Wahr ist doch eher das Gegenteil dessen, was Werner Luginbühl sagte. Er ist auch Vorsitzender der Energiekommission des Ständerats, UREK-S. Als solcher ist er entweder unterinformiert oder er verbreitet bewusst Halbwahrheiten — mit freundlicher Unterstützung der Bundesrätin.
Die Kohlestromproduktion hat in Deutschland nicht systematisch zugenommen. Kurzfristig und vorübergehend hat es eine Verschiebung von Gas zu Kohle gegeben, und darum einen marginalen Anstieg der Kohlestromproduktion seit 2010, also nach Fukushima. Aber es ist gerade einer der grossartigen Leistungsausweise der Deutschen Energiewende, dass es trotz schnellem Atomausstieg und tiefen CO2-Preisen gelang, die Produktion aus fossilen Energieträgern nicht zu erhöhen, diese über die Jahre hinweg sogar zu reduzieren, von 361 TWh im Prä-Fukushima Jahr 2010 auf 340 TWh im 2015.
Ein anderer grosser Erfolg der Energiewende Deutschlands ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert: Sie hat trotz schneller Abschaltung vieler Atomkraftwerke und tiefer CO2-Preise die Neubauwelle von Kohlekraftwerken und die diesbezügliche an Manie grenzende Euphorie der Energieunternehmen gestoppt. Es ist genau das Gegenteil dessen wahr, was die Verfechter von Atomkraftwerken (und von Kohlekraftwerken) so gerne aber falsch behaupten, wie zum Beispiel kürzlich der Pro-AKW Hardliner, der FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen in der Berner Zeitung. Unter den Unternehmen, die unter einer Kohlekraft-Euphorie litten, sind die Schweizer BKW, Repower, AET (Tessin), SN Energie, Groupe e, Romande Energie, Elektra Birseck-Münchenstein EBM, Regio Energie Solothurn. Alle neuen Kohlekraftwerke in Deutschland wurden lange vor Fukushima projektiert und waren 2011 schon im Bau.
Und eine Halbwahrheit, zum Beispiel
Es gibt (kein) Endlager in Schweden (für hochradioaktive Stoffe).
Leuthard: «Und es gibt ein Tiefenlager in Schweden, das funktioniert. Sicher!« (ab ca. 57:10 Min)
Tatsächlich gibt es in Forsmark ein Endlager für leicht und mittel radioaktive Stoffe. Es handelt sich also hier nicht streng genommen um eine Lüge, aber um eine auffällige Halbwahrheit. Auf dieser Website lässt sich leicht nachlesen, wie der Stand des in Forsmark geplanten Lagers für hochradioaktive Stoffe ist: Das Projekt ist in der Bewerbungsphase („… we submitted the applications to build the repository“). Der Staat und die betroffenen Gemeinden müssen noch zustimmen („The final decision will be made by the Government, but not before the municipalities concerned have said yes or no“, hier.) Diese riesige Anlage ist keineswegs gebaut, noch nicht einmal bewilligt.
Auch Leuthards Behauptung in der Arena, die Schweizer AKW hätten im Post-Fukushima EU Stresstest „hervorragend“ abgeschnitten, ist milde gesagt waghalsig, was in diesem Artikel auf energisch.ch dargelegt ist.
In der Arena äusserte Leuthard zudem eine ganze Reihe von weiteren taktischen Halbwahrheiten und machte Projektionen in die Zukunft, die wegen des aktuellen Sachverhalts nicht plausibel sind. Die wichtigste davon: Wir würden mit der Ausstiegsinitiative Probleme mit dem Stromimport bekommen. Es ist die Hauptsorge der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Ausstiegsinitiative.
Selbstverständlich muss es möglich sein, die Stromverbraucher der Schweiz jederzeit mit Energie zu versorgen, wenn jedes einzelne AKW ausfällt, auch, wenn es ungeplant ausfällt, sogar dann, wenn alle AKW des Landes gleichzeitig ausfallen, was übrigens im August letzten Jahres der Fall war und — es ist nicht erstaunlich — keine Probleme verursachte. Die Versorgung muss mit Importen und einem entsprechenden Netz abgesichert sein und kann sich zusätzlich auf die Wasserkraftwerke stützen.
Ich überlasse es gerne Vincent Verzat, die Fehlbehauptung zu kommentieren.
C’est pas gentil de mentir. | Auszug aus einem Video von Vincent Verzat (vincentvideos.com)
Auch 24heures hat über die Deformation der Wahrheit durch Doris Leuthard berichtet.
Warum riskiert Leuthard ihren Ruf?
Leuthard machte eine ganze Reihe von rhetorischen Fehlbehauptungen — sagte aber, sie sei die wahrscheinlich Glaubwürdigste der Runde.
Auch im Abstimmungsbüchlein lehnt sich der Bundesrat mit Doris Leuthard im zuständigen Departement weit zum Fenster hinaus, was auf energisch.ch kommentiert wurde.
Man würde denken, dass, wer so dreist zu lügen braucht, um Argumente anzubringen, den Abstimmungskampf schon fast verloren hat. Aber eher das Gegenteil ist der Fall. Gemäss Umfrage von SRF riskiert die Initiative zu scheitern. Besonders das Ständemehr dürfte für die Initianten wegen der konservativen und christkatholischen Kantone schwierig zu gewinnen sein.
Dass sich eine Bundesrätin derart exponiert, sogar lügt wie gedruckt, um einen Erfolg der Initiative zu verhindern, erstaunt nicht nur den Schreibenden. Es muss einen guten Grund geben, dass Leuthard so hoch pokert. Es ist erklärbar.
Nicht nur ganz am Schluss der Arena, aber auch dort, (nach ca. 1.13:35) deutete Doris Leuthard an, worum es ihr geht. Sie will nicht so sehr, wie die Basellandschaftliche Zeitung vermutete, mit der Energiestrategie in die Geschichte eingehen. Sie versucht, ihren persönlichen Atomausstieg zu bewerkstelligen. Sie versucht, möglichst wenig mit einer sich immer deutlicher abzeichnenden finanziellen Rettungsaktion in Verbindung gebracht zu werden. Sie versucht, ihren eigenen politischen Supergau zu verhindern. Darauf angesprochen, sagte sie in der Arena: «Das ist eine Behauptung!» Und sie sagte gegen Schluss der Sendung: « … ich habe das Gefühl ich, ich sei auch noch ein bisschen zukunftsfähig … ».
Ein Artikel über Leuthards grosses Problem ist für retropower.ch in Vorbereitung.